Ist Scham noch gesellschaftsfähig?

Scham vermittelt sich uns normalerweise direkt, sowohl, wenn wir persönlich beschämt werden oder uns selbst beschämen, als auch, wenn ein anderer beschämt wird oder sich beschämt. Scham ist etwas, was man nicht unbedingt kommuniziert, indem man es benennt. Alle Umstehenden sind sofort erfasst vom Gefühl der Peinlichkeit und dem Wunsch, die beschämende Situation zu verlassen oder sie zu übergehen. Man identifiziert sich mit dem bloßgestellten Menschen. Wir möchten normalerweise nicht, dass wir und andere beschämt werden.

Was beschämt, ist von der Gesellschaft festgelegt, in der man lebt. Es ist ein Ausdruck des Normierten, dessen, was ‚man‘ zu tun hat oder nicht. Ist man selbst beschämt, treten sofort Minderwertigkeitsgefühle auf, man fühlt sich wertlos und gedemütigt, verbunden mit dem Gefühl der Hilflosigkeit. Man fühlt sich unfähig und schwach. Schämt man sich, wird der Kontakt zu anderen vermieden. Man will nur noch weg, egal, was die anderen denken. Man tritt die Flucht an und läuft. In beschämenden Situationen ist man ganz auf sich selbst bezogen: Ich schäme mich. Gleichzeitig entsteht Scham vorwiegend in der Scham vor den anderen. „Was sollen die anderen sagen?“ – „Wie sieht das denn aus?“ Der Blick des anderen ist ausschlaggebend. Man wird zunächst von außen beschämt, indem beispielsweise der Blickkontakt abgewendet wird. Man ist eine Schande, man hat einen Makel, man erlebt einen Ehrverlust. Es ist der Verlust von Würde.

Das Wort Scham bedeutet zudecken, verschleiern, verbergen. Was in einer Gesellschaft einen Wert hat und was keinen Wert hat, was verborgen bleiben muss, was zugedeckt werden muss, bestimmt wie schon erwähnt die Gesellschaft, die jeweilige Kultur. Diese Vorschriften können sich im Verlauf der Zeit verändern. Werden die Normen und Ideale einer Gesellschaft, Kultur und Subkultur nicht eingehalten, erfolgt meistens eine negative Bewertung, die gegebenenfalls eine Bestrafung zur Folge hat. Hält man die Normen und Ideale nicht ein, entsteht bei vielen die Angst, abgelehnt zu werden, lächerlich gemacht zu werden, bloßgestellt und kleingemacht zu werden. Mit dieser negativen Bewertung ist oft eine Ausgrenzung verbunden. Und alles, was ausgrenzt, löst Scham aus, denn man gehört nicht mehr dazu.

Die gesellschaftlichen Normen können zu einem Teil des Ich-Ideals werden. Was von der Gesellschaft gefordert wird, kann zur inneren tiefen Überzeugung, zum inneren Wertesystem werden. Scham vor sich selber entsteht, wenn man im eigenen Denken und Verhalten mit diesen Normen nicht im Einklang ist, auch ohne, dass ein Auge zusieht, ohne, dass ein anderer davon Kenntnis nimmt oder nehmen wird.

Welcher Beurteilungsmaßstab wird heute angelegt? Genauer muss ich fragen, welche Werte und darauf basierende Normen gibt es in unseren heutigen Gesellschaftsstrukturen, in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen, in der Politik und in den Subkulturen der Jugend, wie z.B. Fridays for Future? Dies zu beantworten ist schwierig, da erst eine Gruppenzugehörigkeit genauere Auskunft gibt. Manche Normen sind nicht Teil eines übergreifenden Wertekodex wie dem Grundgesetz und doch haben sie Gültigkeit und sollen eingehalten werden. Seit Jahrzehnten schämen sich die meisten Frauen davor, Pelze zu tragen. Aufgrund der Klimaschutzdebatte ist mittlerweile in einigen Gesellschaftsschichten das Fliegen verpönt. Beschämt oder wenigstens mit einem schlechten Gefühl steigen einige Menschen heute in ein Flugzeug. Die Einhaltung von gesetzten Normen, die eine mächtige Gruppe oder eine Gemeinschaft aufgestellt hat, wird zunächst auch von ihr überwacht, später werden sie mehr und mehr verinnerlicht. Dort aber, wo einzig Normen herrschen, ist keine Empathie und ist kein oder wenig Verstehen über Andersartigkeit und Einzigartigkeit möglich. Ein Normensystem ist ein System, das ausschließt und einschließt.

Wir leben in einer Welt, in der fast jeder ein öffentliches Gesicht hat, ein Profil in einem sozialen Netzwerk. Dabei geben wir uns vielfach einer Gemeinschaft preis, die uns sieht und beurteilt. Mobbing, Rufmord, wie wir es früher genannt haben, ist in der westlichen Welt zum Tagesgeschehen geworden. Es geschieht in der Grundschule ebenso wie auf der Regierungsebene. Jugendliche und Kinder amüsieren sich, wenn andere bloßgestellt werden, Staatsoberhaupte wie der Präsident der Vereinigten Staaten demütigen öffentlich und bezeichnen Reporter als dumm, wenn sie unangenehme Fragen stellen, Frauen werden verhöhnt und entwertet, Mitstreiter, die nicht mehr konform sind, öffentlich verleumdet und erniedrigt. In China gibt es ein Punktesystem, welches entscheidet, wer ein wertvolles Mitglied der chinesischen Gesellschaft ist, wann Belohnung und Bestrafung erfolgt. Alles ist öffentlich. Das Netz verbreitet alles in Sekundenschnelle und weltweit, sodass es jeder wissen kann.

Verachtung, Diskriminierung, Entwertung und Erniedrigung sind gesellschaftsfähiger geworden, die Schamgrenze diesbezüglich ist gesunken. Warum empören sich so wenige, dass Achtung, Respekt, Toleranz für Anderssein, Höflichkeit und Freundlichkeit, aber auch Kritik, an Wert verlieren? Obwohl wir Menschen dies brauchen wie unser täglich Brot und Wasser. Selbstwert und Selbstachtung leben davon. Ohne die Hülle der Scham wird man seiner Würde beraubt. Scham ist die Hüterin der Individualität, der individuellen Persönlichkeit vor dem Eindringen des Kollektivs, der Gesellschaft und gleichzeitig – und das ist wichtig – die Schützerin der sozialen Anpassung. Passen wir uns der vermittelten Hierarchie von Werten und Normen, geprägt durch Familie, Gesellschaft und Kultur, an, sind wir uns der Zugehörigkeit sicher. Ist es der Konflikt zwischen Anpassung und Individualität, der Entwertung und Kränkung freieren Lauf lässt?

Der Mensch, der immer wieder andere beschämt, verfügt über ein geringes Selbstwertgefühl, das Gefühl für seinen Wert wurde im Laufe seines Lebens immer wieder herabgesetzt. Herabwürdigende und hämische Bemerkung werden gemacht, wenn zuvor eine Kränkung, Tadel oder Verletzung stattgefunden hat. Mit zuvor meine ich nicht unbedingt das Zeitnahe, sondern dass, was der Beschämte in der Kindheit und im Verlauf seines Lebens erlitten hat. Die dadurch entstandene Verachtung für sich selber wird ins Gegenteil verkehrt, vom passiv Erlebten ins aktive Tun. Die Verachtung zwingt dann dem anderen Menschen auf, sich minderwertig, unwürdig und wertlos zu fühlen. Die eigene Scham wird somit projiziert. Bei diesem Verhalten wird jede gefühlsmäßige Verbindung zu dem neu beschämten Menschen abgeschnitten. Kränkungen und Erniedrigungen können auch mit Zynismus beantwortet werden und somit als Abwehr der eigenen Scham eingesetzt werden. Denn der Zynismus stellt alle moralischen und menschlichen Werte in Frage, er macht sich darüber lustig. Auch Spott und Sarkasmus sind dort einzureihen. Ein Sprichwort sagt: Hochmut kommt vor dem Fall. Psychologisch gesehen kommt der Hochmut nach dem Fall – nach der Demütigung und Kränkung.

So verdeckt z.B. joviales Verhalten die eigene Verlegenheit. Arroganz oder gönnerhaftes Verhalten ist die mildere Antwort auf die eigene erlittene Demütigung. Während einen Menschen zu übergehen, ihm keine Bedeutung zu geben, ihn wie Luft zu behandeln, Formen der äußersten Verachtung sind. Grandiosität, Macho-Gebaren, aber auch sich zur Schau stellen, sind narzisstische Aufwertungen, die die Scham über zu geringe Männlichkeit oder Weiblichkeit überspielen sollen. Selbstsicherheit und Selbstvertrauen wird als Gegengewicht vorgetäuscht. Die Angst vor Spott und Demütigung soll überdeckt werden.

Diejenigen, die sich freiwillig zur Schau stellen und somit Verachtung und Ekel wie auch der Lächerlichkeit ausgeliefert sind, zeigen sich schamlos. Eine kontraphobische Verleugnung, denn Scham wird auch kaschiert durch Schamlosigkeit. Ideale und Normen werden als Schwäche empfunden und müssen bekämpft werden durch einen Lebensstil, eine Kleidung oder eine Sprache, die den Normen und Idealen nicht entsprechen. Entgegen allen Normen des Gewissens und der Empathie wird mit Missbrauch, Gewalt und Macht geprahlt. Die Geringschätzung von Gefühlen und verpflichtenden Bindungen werden zur Schau getragen, man schämt sich nicht, man hat eine andere Haltung, eine Haltung ohne Prinzipien und ohne Werte. Es ist eine narzisstische Haltung, die z.B. Macht, schamlosen Missbrauch anderer Menschen, Opportunismus oder Rache zum Ziel hat, die einzig unter dem Diktat des Lustprinzips steht. Dahinter verbirgt sich ein Mensch, der traumatisch gedemütigt und beschämt wurde. Was bleibt ist die Verkehrung ins Gegenteil, der Wunsch nach liebevollen Gefühlen wird als Schwäche deklariert, deren man sich schämen muss. Scham maskiert sich, diese Maskierung ist Ausdruck schwerster Selbstwertprobleme.

Was ist gegen diese menschenverachtende Entwicklung zu tun? Mit den Worten von Stéphane Hassel: Empört euch!

Vorheriger Beitrag